Truus Wijsmüller-Meijer

Was bewegte eine Frau aus den Niederlanden 1938 nach Deutschland und Österreich zu gehen und jüdische Kinder aus diesen Ländern zu retten? Wie hat sie es geschafft, Kontakte zu knüpfen, Transporte zu organisieren und die Eltern zu überzeugen? Welche Schwierigkeiten musste sie bewältigen, welche persönlichen Risiken war sie bereit einzugehen? Was bedeutete die Rettungsaktion für die Kinder, die ohne Eltern in ein fremdes Land kamen? Die Wanderausstellung über die grenzüberschreitende Rettungsaktion von „Tante Truus“ zeigt, was es bedeutete, Zivilcourage zu zeigen und sich für den Schutz jüdischen Lebens unter einer Diktatur einzusetzen. 

Geertruida Wijsmuller-Meijer, am 21.04.1896 in Alkmaar geboren, bekannt geworden als „Tante Truus“, rettete zusammen mit anderen Mitstreiter*innen während der Zeit des Nationalsozialismus mit den sogenannten Kindertransporten viele jüdische Kinder:

Sie, die so engagiert, hartnäckig und von ihrer Mission überzeugt war, reiste im Dezember 1938 sogar nach Wien, um mit Adolf Eichmann einen Deal auszuhandeln, der es danach rund 10.000 meist jüdischen Kindern ermöglichte, ihre Geburtsländer zu verlassen und nach England zu fliehen, wobei einige auch in Holland zurückblieben. Die ersten 600 Kinder durften am 10. Dezember 1938 aus Wien ausreisen. Zwischen Dezember 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 organisierte Truus Wijsmuller mehrmals wöchentlich Transporte, um die Kinder aus dem nationalsozialistischen Territorium ausreisen zu lassen.

Mit Unterstützung von jüdischen, englischen und niederländischen Organisationen rettete Truus diesen Kindern aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechischen Republik, die ansonsten mit Sicherheit in den Vernichtungslagern den Tod gefunden hätten, das Leben. Sie reisten über Hoek van Holland nach England und wurden von dort in andere sichere Länder weitergeleitet. Viele von diesen Kindern wanderten in die USA und später auch nach Israel ein.

Weitere Kindertransporte, die über den Hilfsverein der Juden in Deutschland organisiert wurden, gingen nach Schweden, Belgien und Frankreich, in die Niederlande und die Schweiz. Auch hierüber wurde weiteren 10.000 Kindern das Leben gerettet.

Tante Truus gehörte zu denjenigen Menschen, die Jüdinnen und Juden halfen zu fliehen oder sich zu verstecken. Um die Geschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus  zu begreifen, sind für junge Menschen Schicksalserzählungen von Personen in ihrem eigenen Alter sehr hilfreich, um sich in diese Schicksale einzufühlen und um Empathie zu entwickeln.

Ausstellung

Die Wanderausstellung „Keine Zeit für Tränen“ beschäftigt sich mit einem Teil der sog. Kindertransporte 1938/39, d.h. zur Rettung jüdischer Kinder vor dem sicheren Tod. 

Die Ausstellung „Keine Zeit für Tränen“ soll helfen, sich dem Thema Antisemitismus emotional zu nähern und sich empathisch damit auseinanderzusetzen. Aus der Geschichte von „Tante Truus“ lassen sich für die Arbeit mit Jugendlichen diverse Themen ableiten.

Wie war die generelle Situation jüdischer Kinder und Jugendlicher im Nationalsozialismus? Wie entwickelte sich ihr Alltag ab 1933 und welchen Einschränkungen und Ausgrenzungen waren sie unterworfen? Wie entwickelte sich die Bedrohung von Leib und Leben mit den Jahren und welche Möglichkeiten hatten jüdische Familien, sich in Sicherheit zu bringen? Wer half ihnen und wer nicht? 

Desweiteren sollen die Beweggründe von Geertruida Wijsmuller-Meijer, Tante Truus, vermittelt, eine Rettungsaktion für jüdische Kinder zu organisieren, um sie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Deutschland, Österreich und den angrenzenden Gebieten zu schützen. Wie viel Zivilcourage und Überzeugung ist notwendig, um anderen Menschen dabei zu helfen, zu überleben?

Das Projekt Wanderausstellung „Keine Zeit für Tränen“ beschäftigt sich mit einem Teil der sog. Kindertransporte 1938/39, d.h. zur Rettung jüdischer Kinder vor dem sicheren Tod.  Die Ausstellung wird von Mitte November bis Ende Dezember 2024 in Wuppertal und Solingen öffentlich zu sehen sein.

Mit Begleitmaterial in deutscher Sprache, Ausstellungsführungen oder  auch in Form eines etwa 3,5 stündigen Workshops  wollen wir junge Menschen in unterschiedlichen Kontexten (Schule, Universität, Jugendeinrichtungen etc.) ansprechen, um eine gezielte Auseinandersetzung anzustoßen: mit Antisemitismus und dessen Auswirkungen sowie mit den Frage nach „Verantwortung und Erinnerung“ und nach „Haltung“ und „Zivilcourage“ – gestern wie heute. 

Auf dieser Webseite finden Sie außerdem weitergehende Informationen zur Thematik der sog. Kindertransporte. Zu den Rahmenbedingungen, die Wanderausstellung für die eigene Schule oder Einrichtung auszuleihen und zu nutzen.

Die Wanderausstellung kann ab Januar 2025 von Schulen und Jugendeinrichtungen im Bergischen für einen Zeitraum von maximal vier Wochen ausgeliehen werden. Kosten entstehen den Einrichtungen keine, Spenden sind aber willkommen. Die Ausstellung wird nicht versendet oder geliefert. Für den Verlust und Schäden an der Ausstellung und dem Zubehör haftet die entleihende Einrichtung.

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Gesellschaftlicher Kontext

Antisemitismus ist in Europa, dem Nahen Osten und weltweit verbreitet und über Jahrhunderte kulturell und gesellschaftlich tief verwurzelt. Er ist oft abstrakt und erst auf dem zweiten Blick erkennbar, stellt aber in der Konsequenz immer eine Bedrohung von Leib und Leben jüdischer Menschen dar. Die Wanderausstellung soll Jugendlichen helfen, sich dem Thema emotional zu nähern und sich damit empathisch auseinanderzusetzen.

Zunächst ist es wichtig, die Situation der jüdischen Kinder im Nationalsozialismus zu verstehen: wie entwickelte sich ihr Alltag ab 1933, welchen Einschränkungen und Ausgrenzungen waren sie unterworfen, wie entwickelte sich die Bedrohung mit den Jahren, welche Möglichkeiten hatten jüdische Familien, sich in Sicherheit zu bringen, wer half ihnen und wer nicht?

83 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkriegs und der Shoah in Europa haben Menschen jüdischen Glaubens weltweit und auch hier bei uns in Deutschland wieder Angst, sich offen zu ihrem Glauben und ihren kulturellen Wurzeln zu bekennen. Sie begegnen erneut in ihrem Alltag (in Schule und Universität, auf der Straße etc.) offenem Antisemitismus.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage will die Ausstellung bestimmte historischen Bezugspunkte zum Thema mitzudenken: Die “Machtergreifung” der Nationalsozialisten in Deutschland (1933) hat vor allem zur 12 Jahre dauernden Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von 6 Mio. Jüdinnen und Juden – der Shoah – geführt. Der Antisemitismus ist auch in Europa tief verwurzelt.  Aber in dieser Zeit gab es auch Widerstand und Solidarität, Rettung und Menschlichkeit. 

Nicht die Fokussierung auf die Täter ist wichtig, sondern auf diejenige die etwas gegen Antisemitismus unternehmen, die Zivilcourage und Mut beweisen, sich für diejenigen Einzusetzen, die Schutz brauchen – zeigt das Ihr Menschen seid. 

Kindertransporte

Die Situation 1938 – Organisation der Kindertransporte

Jüdische und christliche Kinder und Jugendliche besuchten dieselben Schulen. Aber mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die jüdischen Schüler und Schülerinnen in vielen Fällen einer ablehnenden und ausgrenzenden Behandlung durch Lehrer und Mitschüler ausgesetzt. Am 15. November 1938, eine Woche nach den antijüdischen Ausschreitungen wurde der Schulbesuch von öffentlichen Schulen für jüdische Kinder und Jugendliche gänzlich verboten, und nach der Panik, den der Pogrom in den jüdischen Familien ausgelöst hatte, setzte sich die Erkenntnis durch, dass es in Deutschland keine Zukunft mehr für die Kinder geben würde.

Zeugnis Gert Riemer, Schüler des Hindenburg-Gymnasiums (heute Gymnasium Bayreuther Straße). Unten ist zu lesen, dass Gert die Schule nicht mehr besuchen durfte. (Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal)

Aber es gab kaum mehr Länder, die bereit waren, jüdische Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich aufzunehmen. In dieser Situation willigte die britische Regierung ein, Kinder und Jugendliche in England einreisen zu lassen. Dies geschah auch mit diplomatischem Kalkül, denn Großbritannien hatte kein Interesse an einer Einwanderung jüdischer Flüchtlinge ins britische Mandatsgebiet Palästina. Mit dem Angebot, Kinder und Jugendliche im Mutterland aufzunehmen, glaubte man, die restriktive Palästinapolitik moralisch wieder gutzumachen.

Anlass für die Kindertransporte nach Großbritannien waren Presseberichte über die Pogrome am 9. und 10. November 1938, in deren Verlauf in ganz Deutschland Synagogen angezündet, Geschäfte und Wohnungen zerstört und jüdische Männer, Frauen und Kinder misshandelt wurden. Etwa 30.000 Männer, darunter auch viele Jugendliche, wurden in KZs verschleppt. Die Öffentlichkeit in Europa und den USA war empört. Jüdische Organisationen wurden von christlichen und anderen Gruppen in dem Bemühen, Hilfe zu organisieren, unterstützt. In Großbritannien gründete sich das „Movement for the Care of Children from Germany“, später „Refugee Children’s Movement“, das den Großteil der organisatorischen Aufgaben übernahm. Schon am 21. November 1938 entschied das britische Parlament, unbegleitete jüdische Kinder aus Deutschland mit Kollektivvisa einreisen zu lassen. Über die BBC wurden Familien aufgefordert, ein Kind aus Deutschland aufzunehmen. Es musste nachgewiesen werden, dass der Unterhalt der Kinder gesichert war, damit die finanzielle Belastung des britischen Staates gering blieb. Schließlich wurde ein Limit dadurch gesetzt, dass eine Quote von 10.000 Kindern nicht überschritten werden sollte – wahrscheinlich hätte Großbritannien aber noch mehr Kinder aufgenommen, wenn nicht der Kriegsbeginn weitere Transporte unmöglich gemacht hätte.

Es waren einige Bedingungen an dieses Zugeständnis geknüpft: Die Jugendlichen mussten unter 17 Jahre alt sein und durften in England weder Arbeitsplätze besetzen noch dem staatlichen Sozialwesen zur Last fallen. Die Reise und die Bereitstellung von Unterkünften (Pflegefamilien oder Heime) mussten die Juden vollkommen selbst organisieren und auch bezahlen.

Am 2. Dezember 1938 kam der erste Transport mit Kindern aus Berlin, Hannover und Leipzig in England an. Der letzte Transport erreichte die rettende Insel am 2. September 1939, einen Tag nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nur noch eine kleine allerletzte Gruppe von in den Niederlanden wartenden Kindern konnte im Mai 1940 folgen.

Organisation und Begleitung der Transporte

Die Vorbereitung der Ausreise übernahmen in Deutschland die Abteilung Kinderauswanderung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und die Jüdischen Gemeinden vor Ort; für evangelisch oder katholisch getaufte Kinder aus jüdischen Familien waren die entsprechenden konfessionellen Hilfsstellen zuständig. Die Quäker in Berlin, Wien und in London unterstützten die Emigration von konfessionslosen, aber auch von christlichen und jüdischen Kindern.

Flüchtlingsorganisationen und auch einflussreiche nichtjüdische Persönlichkeiten wurden hier aktiv. So viele Kinder wie möglich sollten aus dem Deutschen Reich in Sicherheit gebracht werden. Bis zum Kriegsbeginn im September 1939, der weitere „Kindertransporte“ unmöglich machte, konnten etwa 10.000 Kinder auf diese Weise gerettet werden, vom Säugling bis zu jungen Erwachsenen. Die meisten von ihnen sahen ihre Eltern, die zurückblieben, nicht wieder.

Verschiedene ZeitzeugInnen aus Düsseldorf und aus Bochum erinnern sich an Elfriede Bial, von den Kindern Schwester Ella genannt, die als Gemeindeschwester der Synagogengemeinde vermutlich mehrere Transporte aus Düsseldorf nach England begleitete. Rudi Löwenstein (Rudy Lowenstein) beschreibt seine Ausreise am 7. Februar 1939, bei der Schwester Ella dabei war. [Bericht Rudy Lowenstein, in: Bertha Leverton, Shmuel Lowensohn (Hg.), „I Came Alone: The Stories of the Kindertransports“, Lewes, Sussex 1990]

Erna Philipp, Gemeindesekretärin in der Jüdischen Gemeinde Bochum, organisierte gemeinsam mit Else Hirsch die Kindertransporte aus Bochum. Als Geschäftsführerin der Jüdischen Wanderfürsorgestelle Rheinland-Westfalen war sie auch überregional tätig. In einem in der Wiener Library in London überlieferten Erinnerungsbericht aus dem Jahr 1955 schildert Erna Philipp, dass sie insgesamt elf Transporte mit Kindern und Jugendlichen in die Niederlande und nach England gebracht habe. Die Begleitung der elften Gruppe kurz vor Kriegsausbruch nutzte sie selbst zur Flucht.

In Herne organisierte Gerda Riesenfeld als Vertreterin der jüdischen Wohlfahrt die Abreise der Kinder. 1939 wurden ihr aus Berlin 25 Plätze für Herne zugeteilt. [Ralf Piorr (Hg.), „Nahtstellen, fühlbar, hier …“ Zur Geschichte der Juden in Herne und Wanne-Eickel, Essen 2002]

Christliche und jüdische Organisationen

Die Ausreise von Ruth Meyer, die mit ihrer Familie nach dem Novemberpogrom von Gemünd nach Aachen verzogen war, wurde im Mai 1939 durch die britischen Quäker organisiert, während die Aachener Synagogengemeinde zuvor die Ausreise ihres Bruders Alfred mit einem Kindertransport ermöglicht hatte. [Hans Dieter Arntz, Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Kreisgebiet Schleiden, Euskirchen, Monschau, Aachen und Eupen/Malmedy, Euskirchen 1990, S. 379-382]

Irene Herz aus Witten war evangelisch getauft und fand zunächst keine Organisation, die ihre Ausreise organisieren wollte, bis sich schließlich doch die Jüdische Gemeinde für zuständig erklärte. Aus Witten nach Düsseldorf-Oberkassel verzogen, war Irene dort zuvor der weitere Besuch des Lyzeums untersagt worden. [Interview mit Irene D., geb. Herz, geführt von Martina Kliner-Fruck, Stadtarchiv Witten]

Mindestens 463 Kinder aus dem Rheinland und mindestens 260 Kinder aus Westfalen konnten mit einem Kindertransport gerettet werden. Diese Zahl hat Claudia Curio, die ein grundlegendes Buch über die Kindertransporte geschrieben hat, in einer Meldung des SD-Führers des SS-Oberabschnitts Nord-West mit Stichtag 30.6.1939 gefunden; das Dokument ist im Archiv der Israelischen Zentralen Gedenkstätte Yad Vashem überliefert. [Claudia Curio, Verfolgung, Flucht und Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien, Berlin 2006, S. 57]

Die meisten Kinder fuhren von ihren Heimatorten bzw. einer benachbarten Großstadt mit dem Zug nach Hoek van Holland (manche auch nach Hamburg), wo sie auf ein Fährschiff umstiegen, das sie nach Harwich an der englischen Ostküste brachte, und von dort erneut mit dem Zug zum Londoner Bahnhof Liverpool Street Station.

In England kamen viele Kinder und Jugendliche zunächst in zentrale Auffanglager wie das Ferienlager Dovercourt oder in ein vorbereitetes Hostel, andere wurden am Londoner Bahnhof Liverpool Street Station von Verwandten oder Gastfamilien abgeholt. Die ersten Wochen und Monate ohne die Eltern und die vertraute Umgebung waren für fast alle Kinder schwer. Liebevolle Gasteltern, Geschwister oder Freunde, die gemeinsam emigrierten, konnten die Eingewöhnung erleichtern, aber für viele Kinder waren Einsamkeit und Fremdheit zentrale Erfahrungen.

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Mit den Kindertransporten geretteten Kinder aus dem Bergischen Land